Rede zur Eröffnung des Musikfestes 2011

Sonntag, 14. August 2011

Die Eröffnungsveranstaltung zum 200. Jubiläum des Erfurter Musikfestes 1811 mit der Aufführung von Haydns Schöpfung wurde von einer Rede des Franziskaners P. Maximilian Wagner OFM begleitet.

Rede beim Musikfest am 14. August 2011 im Opernhaus Erfurt - P. Maximilian Wagner OFM

Sehr geehrter Herr Justizminister Dr. Poppenhäger, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Bausewein, liebe Musikfreunde und Mitglieder des Initiativkreises Barfüßerkirche, es ist mir eine große Ehre und besondere Freude, als neuzeitlicher Vertreter der Barfüßer heute abends zum Thema „Franziskus und Bewahrung der Schöpfung“ zu Ihnen sprechen zu dürfen. Seit 800 Jahren fasziniert der Poverello aus Assisi mit seinem berühmten Sonnengesang die Menschen aller Rassen, Sprachen und Kulturen weltweit.

Schon zu Lebzeiten des hl. Franz von Assisi kamen im November 1224 die ersten sieben Franziskaner aus Italien ohne Schuhe bekleidet und daher allgemein „Barfüßer“ genannt, hierher nach Erfurt. Sie waren Wandermönche und hatten noch keine festen Niederlassungen. Als man ihnen anbot, in Erfurt ein Kloster für sie zu bauen, und sie fragte, wo es am ehesten angesiedelt sein sollte, antwortete ihr Anführer Bruder Jordan von Giano: „Ich weiß gar nicht, was ein Kloster ist. Baut uns das Haus nur nahe am Wasser, damit wir zum Füßewaschen hineinsteigen können“. Und so geschah es.

Bis dahin war für die Franziskaner die weite Welt ihr Kloster, so sehr fühlten sie sich draußen in der Natur zuhause und mit der Schöpfung als göttlichem Paradies verbunden.

Da aber die Zahl der Brüder rapide zunahm und der strenge Winter in unseren Breitengraden ein Überleben im Freien erschwerte, war es bald unumgänglich, dass sich die Brüder nun doch in einfachen Häusern niederließen. Welch große Wertschätzung und Anerkennung man ihnen in Erfurt entgegenbrachte, und wie sehr der Glaube an Gott als Schöpfer aller Dinge die Menschen prägte, davon zeugt bis heute der beeindruckende Bau der Barfüßerkirche. Die farbigen Glasfenster des Chores, übrigens die ältesten und bedeutendsten Glasmalereien der Stadt, von denen Sie einige hinter mir auf der Projektionsfläche sehen, zeigen im Wesentlichen Szenen aus dem Leben des hl. Franziskus und stammen aus der ursprünglichen Barfüßerkirche.

Bis in die Reformationszeit hinein und während des 30-jährigen Krieges lebten und wirkten die Franziskaner segensreich in Erfurt, fast 430 Jahre lang bis 1655. Dreimal wurde die Barfüßerkirche zerstört, zweimal wiederhergestellt. Für den dritten Wiederaufbau der Kirche engagiert sich seit 2010 ein Initiativkreis, der offen ist für weitere Mitstreiter und Förderer.

Die Spiritualität eines Franz von Assisi hat in Erfurt also von Anfang an ein festes Zuhause. Die Barfüßerkirche ist ein beredtes Denkmal und nachhaltiges Zeugnis dafür. Vom Kreuz her vernimmt Franziskus in seiner Jugend den göttlichen Auftrag für sein Leben: „Geh und baue meine Kirche wieder auf!“ Er nimmt Jesus beim Wort und restauriert eigenhändig drei Kirchen in seiner Heimat. Erst im Rückblick auf sein Leben erkennt er, wie sein unermüdlicher Einsatz weltweit der Kirche Tiefe und Weite geben konnte. Sein Beispiel sollte auch uns heute ermutigen, der zerstörten Barfüßerkirche in Erfurt wieder ihr ursprüngliches Gesicht und ihre einstige Würde zurück zu geben.

Wohl kaum ein anderer Heiliger wird mit dem Thema „Bewahrung der Schöpfung“ so sehr in Verbindung gebracht wie gerade Franz von Assisi, dessen Sonnengesang uns zum dankbaren Lob des Schöpfers ermutigt:

Höchster, allmächtiger, guter Herr, dein sind das Lob, die Herrlichkeit und Ehre und jeglicher Segen. Dir allein, Höchster, gebühren sie, und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen.

Bereits 1979 erklärte man Franz von Assisi zum “himmlischen Patron des Umweltschutzes", um der Welt von heute einen wichtigen Impuls zur Erhaltung unserer Schöpfung zu geben. Franziskus hat uns mit dem Sonnengesang zwar keine detaillierte Anleitung hinterlassen, wie wir die Umwelt schützen und den Fortschritt planen können, ohne unsere Natur zu verwüsten. Aber die Grundzüge seines Menschen- und Weltbildes sind bis heute wegweisend.

Wenn wir den Sonnengesang hören, geht uns das Herz auf, wir freuen uns über die darin ausgedrückte Zärtlichkeit und stimmen gerne diesem mystischen Naturerleben zu. Aber bleiben wir ehrlich: Können wir die Natur noch so erleben? Zum Teil erfahren wir sie schlichtweg gar nicht mehr, weil sich unser Leben größtenteils zwischen Betonwänden oder in Blechkarosserien abspielt, weil unsere nachts taghell erleuchteten Städte den Blick auf die Sterne nehmen und wir unser Wasser längst im Supermarkt kaufen. Schon lange haben wir die Naivität der Aufklärung verloren und können nicht mehr zurück zur Natur als der vermeintlichen Garantin von Unschuld und Harmonie, so als komme alles Elend nur durch die Entfremdung gesellschaftlicher Zwänge und den Fortschritt in Wissenschaft und Technik. Natürlich, wir haben die Natur zu unserem Nutzen vergewaltigt und erleben nun, wie dieser Machbarkeitswahn als Fluch auf uns zurückschlägt, in unseren alltäglichen Klimakatastrophen und Lebensmittelskandalen etwa, in der Angst vor einem neuen Tschernobyl oder den Opfern missglückter Schönheitsoperationen.

Franziskus wählt eine Sprache, die direkt von seinem Herzen auf das Papier gelangt. Dadurch schenkt er uns ein Gedicht, welches ein hervorragendes Zeugnis für sein Naturverständnis abgibt. Franziskus lässt sich von allem, was lebt, an Gott erinnern. Die Schöpfung ist voller Spuren Gottes, die Natur ein Fenster zu Gott:

Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, besonders Bruder Sonne, der uns den Tag schenkt und durch den du uns leuchtest. Schön ist er und strahlend mit großem Glanz: von dir, du Höchster, ein Sinnbild.

Gelobt seist du, mein Herr, für Schwester Mond und die Sterne. Am Himmel hast du sie geformt, klar und kostbar und schön.

Gelobt seist du, mein Herr, für Bruder Wind, für Luft und Wolken und heiteres und jegliches Wetter, durch das du deine Geschöpfe am Leben erhältst.

Gelobt seist du, mein Herr, für Schwester Wasser. Sehr nützlich ist sie und demütig und kostbar und keusch.

Gelobt seist du, mein Herr, für Bruder Feuer, durch den du die Nacht erhellst. Und schön ist er und liebenswürdig und kraftvoll und stark.

Gelobt seist du, mein Herr, für unsere Schwester Mutter Erde, die uns erhält und lenkt und vielfältige Früchte hervorbringt mit bunten Blumen und Kräutern.

In den ersten sechs Strophen des Sonnengesangs lässt sich eine erstaunliche Systematik entdecken: Den drei Himmelsgeschöpfen Sonne, Mond und Sterne stehen mit Wind, Wasser, Feuer und Erde die seit der Antike bekannten vier Urelemente gegenüber. Die heilige Zahl drei bezeichnet sozusagen das Oben, das Erhabene, das „Transzendente“, das sich über das darunter liegende Weltgeviert spannt. Das Oben und das Unten verbinden sich zur Siebenzahl, und die steht auch hier für die Fülle, das Ganze, da klingt noch einmal die Genesis durch: Alles war sehr gut, alles lobt Gott. Bemerkenswert auch, dass männliche und weibliche Geschöpfe immer paarweise auftreten, da reichen sich jeweils Bruder und Schwester in harmonischem Reigen die Hand und verweisen so nochmals auf das Ganze, zu dem sie sich in ihrer Verschiedenheit ergänzen: Bruder Sonne und seine Schwestern Mond und Sterne, Bruder Wind und Schwester Wasser, Bruder Feuer und Schwester Mutter Erde.

Gelobt seist du, mein Herr, für jene, die verzeihen um deiner Liebe willen und Krankheit ertragen und Not. Selig, die ausharren in Frieden, denn du, Höchster, wirst sie einst krönen.

Gelobt seist du, mein Herr, für unsere Schwester, den leiblichen Tod; kein lebender Mensch kann ihm entrinnen. Wehe jenen, die in tödlicher Sünde sterben. Selig, die er finden wird in deinem heiligsten Willen, denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun.

Lobt und preist meinen Herrn und dankt und dienet ihm mit großer Demut.

Der Mensch erscheint im Sonnengesang nicht als Beherrscher, der sich etwas untertan macht, nicht einmal als Krone der Schöpfung. Nur indirekt kommt er vor, gebrechlich und begrenzt, der Krankheit, Drangsal und dem Tod ausgesetzt. Abhängigkeit macht normalerweise düster und aggressiv. Hier nicht. Die Erfahrung, in die gemeinsame Abhängigkeit aller eingebunden zu sein, macht heiter und dankbar, lässt loben und singen. So als wäre der Mensch von einer schweren Last befreit, weil er nicht Schöpfer sein muss, Maß und Mittelpunkt von allem, sondern Geschöpf sein darf, einer unter Geschwistern.

In der ältesten Abschrift aus dem Jahr 1250 wird der Sonnengesang eingeleitet: „Hier beginnt das Loblied der Geschöpfe, das Franziskus zum Lob und zur Ehre Gottes verfasst hat, als er krank zu San Damiano lag.“ Das heitere Lied ist also ein Krisenprodukt, Franziskus schreibt es wenige Monate vor seinem Tod, als er von ständigen Schmerzen gequält und fast blind ein Pflegefall geworden ist. Die bunten Blumen, die er besingt, kann er kaum noch sehen, die vielfältigen Früchte nicht mehr genießen. Vor Schwester Sonne muss er sich schützen, weil sie seine entzündeten Augen sticht. Franziskus ist verliebt in das Leben, aber in das ganze Leben: Gerade auch vom Bitteren, Kaputten, Gefährlichen lässt er sich berühren.

Während seiner Krankheit dichtete und komponierte Franziskus eine ganze Reihe von Liedern. Singend haben die Brüder von ihm gelernt, singend die Botschaft weitergegeben. Er wollte, wie er einmal sagte, dass die körperlichen Leiden sich in Trost und Freude des Geistes verwandeln. Von diesen Liedern ist uns nur der Sonnengesang erhalten geblieben, und auch von ihm nur der Text, nicht die Melodie. Gerade im Bitteren – man denke an seine Begegnung mit dem Aussätzigen – kommt Franziskus auf den Geschmack des Lebens. In dem, was nicht schmeckt, findet er Geschmack an Gott und der Welt.

Franziskus erlebt die Welt noch ganz anders als Schöpfung Gottes als wir heute. Noch kein Autolärm durchbricht das beredte Schweigen der Natur. Die Atemwege werden noch nicht beengt durch die Schadstoffe in der Luft. Das Wasser ist noch rein, klar und keusch. Da gibt es noch keine Staudammbrüche und Flugzeugkatastrophen. Keiner weiß etwas vom Hunger der Mehrheit der Menschen oder von den Slums der Großstädte. Der Mensch erlebt noch die Unberührtheit, die Schönheit und das Geheimnis der Welt. Nicht so der moderne Mensch. Zwar üben der Bach, die Wiese, der Wald, der Berg, der nächtliche Sternenhimmel, der Sonnenuntergang immer noch ihren Zauber aus. Aber nur mehr auf wenige und auch da eher selten. Wir erleben die Welt immer mehr als Schöpfung des Menschen. Der Mensch hat ihr seine Herrschaft aufgezwungen, sie ausgebeutet, sie beraubt, verwüstet und verpfuscht.

Für uns ist die Welt zunächst die Welt des Menschen. Von ihm in die Zügel genommen, durch Zivilisierung seinen Bedürfnissen angepasst, durch Technik vermenschlicht, aber auch manipuliert. So trifft der Mensch in der Welt nur noch auf die eigenen Spuren, nicht mehr oder nur selten auf jene, die Gott in seiner Schöpfung hinterlässt. Eine reiche Ernte ist ihm nicht mehr Zeichen der Gnade Gottes, sondern eines guten Bodens, gezielter und erdgerechter Düngung, guter Wetterbedingungen. So braucht der Mensch Gott nicht mehr, um die Welt und das Geschehen in ihr zu erklären.

Wer die Dinge analytisch auseinander nimmt, ist nicht imstande, das göttliche Geheimnis und die Harmonie des Alls wahrzunehmen. Ebenso wie derjenige, der nur die Dinge äußerlich betrachtet, nicht aber in sie hineinsieht. Dagegen wird Großes erleben, wer sich den Dingen und dem Geschehen aussetzt in der kindlichen Haltung des Lauschens und Wartens. Man kann diese Haltung Aufmerksamkeit, Meditation oder Kontemplation nennen. Eine Grundhaltung jedenfalls, die Franz von Assisi ein Leben lang in sich verkörperte. Der Meditierende übersteigt das Vordergründige, Sichtbare und Einzelne. Im Detail, im Ausschnitt erkennt und erfährt er das Ganze, in einer fremden und ermüdenden Alltagswelt plötzlich die Heimat, in der er verweilen und die Dinge genießen und verkosten will. Franziskus ist ein Schauender. Die Armut und Bedürfnislosigkeit öffnen Franziskus die Augen und das Herz für die Natur. Es ist die Armut, die nicht haben, nicht genießen will, nichts für sich selbst sucht, die alles in ihrem Zusammenhang belässt. Da er nichts besitzen will, gehört ihm die ganze Welt. Es ist diese Reinheit des Herzens, die den Apfel am Baum des Lebens hängen lässt und die ihn gewissermaßen ins Paradies zurückbringt. Das Gleiche erleben der Künstler und Musiker, der Liebende und der im Gebet von Gott Ergriffene. In solchen Gipfelerlebnissen bringt sich die göttliche Dimension wieder zur Sprache. Das Geistig-Religiöse gehört zum Wesen der Dinge und vor allem des Menschen. Man kann es erfahren, benennen und deuten. Da wird nichts künstlich hinzugedichtet oder überhöht. Auf diesem Umweg könnten wir vielleicht auch der Weltsicht eines Franziskus wieder zustimmen und dankbar Gottes Spuren in der Natur bewundern.

Was wir von Franziskus lernen können …

Franziskus war gegenüber allem, was ihm begegnete, von einer Ehrfurcht erfüllt, die bis in die Fußsohlen und in die Fingerspitzen hinein ging. Die Dinge waren für ihn eben nicht nur Gebrauchsgegenstände, die der menschlichen Willkür unterliegen, nicht einfach tote Materie, die vorhanden bzw. zu Händen ist und darum beliebig manipuliert werden darf. Für Franziskus war jedes Ding Bedeutungsträger. Was er von der Sonne sagte – nämlich dass sie von dir, Höchster, Bedeutung trägt – könnte von allem gesagt werden: die ganze Schöpfung und die einzelnen Dinge verweisen auf ihren Schöpfer. Franziskus glaubte, dass er es mit Gott zu tun hatte, wenn er dem Wasser, dem Stein, dem Feuer begegnete. Mir scheint, dass das erste ist, was wir von Franziskus lernen können: dass die Dinge nicht auf den Gebrauchswert reduziert werden dürfen, sondern ihren Symbolwert behalten müssen.

Franziskus betonte die Einheit der Geschöpfe. Wichtiger als zu unterscheiden zwischen Mensch, Tier, Pflanze und toter Materie, war ihm die Gemeinsamkeit, in der alle Wesen Geschöpfe Gottes sind. Immer wieder wird betont, wie Franziskus zu allem Bruder und Schwester sagte, wie er mit dem Feuer sprach und um seine Gunst bettelte, wie er die Blumen und die Weinberge und alles aufforderte, Gott zu loben und auf ihn zu hören, wie er zu allem redete, als wären es Menschen, die verstehen könnten. Aber auch umgekehrt: Die Sonne machte das Auge des hl. Franz hell, das Feuer verhielt sich zu ihm wie ein Gentleman, die Vögel hörten ihm zu, die Grillen leisteten ihm Gesellschaft, der Falke erinnerte ihn an die Gebetszeiten, das Lamm mahnte zur Messe, die Blumen trösteten ihn, als riefen sie ihm zu: „Gott hat mich deinetwegen gemacht, lieber Mensch“, oder „Der uns geschaffen hat, ist der Beste!“ Die Lebensgefährten fassen zusammen: „Es ist nicht verwunderlich, wenn das Feuer und andere Geschöpfe Franziskus verehrten: Wir, die bei ihm waren, haben gesehen, mit welch großer Betroffenheit und Liebe er die Geschöpfe liebte und verehrte. Und durch sie wurde er innerlich froh. Sein Geist wurde mit Zärtlichkeit und Mitleid zu allen Geschöpfen erfüllt, so dass er verwirrt wurde, wenn jemand die Dinge ohne Ehrfurcht behandelte. So sprach er voll Begeisterung mit den Geschöpfen, als ob sie ein Gefühl für Gott hätten, verstehen und sprechen könnten. Und viele Male geriet er dabei in jenen Zustand der Betrachtung Gottes, in dem jedes Zeitgefühl schwand“. Mir scheint, das ist das Zweite, was wir von Franziskus lernen könnten: dass wir die Einheit und die Gemeinsamkeit aller Geschöpfe wieder entdecken, die eine Schöpfung, in der der Mensch der Bruder der Natur und die Natur die Schwester des Menschen ist.

In allen Bereichen zeigt sich seine gelebte Gottesbeziehung. Das Lamm, der Fels, der Wurm – alles erinnerte Franziskus an Jesus Christus und seine Geschichte. Es ist, als ob wir es bei ihm mit einem Verliebten zu tun hätten, der nur noch die Geliebte im Kopf hat und durch alles an sie erinnert wird. Ich zweifle darum, ob Franziskus zu diesem Naturverhältnis gefunden hätte, wenn er nicht vorher und ganz entscheidend Christus begegnet wäre. Erst von der Zuwendung Gottes aus, vom Bruder Jesus her, können die Geschöpfe zu Brüdern und Schwestern werden. Der Schöpfungsglaube ist also nicht so selbstverständlich, sondern erst von der personalen Zuwendung Gottes her möglich. Vollends gewiss wird die Voraussetzung des Christusgeheimnisses für den Schöpfungsglauben, wenn man auf jene Problemfelder hinweist, in denen das ökologische Bewusstsein schon ganz deutlich greifbar wird.

Von dieser Mitte aus las Franziskus die Schöpfung mit neuen Augen und ganz anders. Mir scheint, das Dritte, was wir von Franziskus lernen können: dass wir wieder Gottes Spuren in der Schöpfung zu entdecken suchen und uns einen bescheidenen Lebensstil angewöhnen.

Nicht erst heute wird den meisten Menschen bewusst, wie sehr durch rücksichtslosen Umgang mit der Schöpfung unser Lebensraum gefährdet ist und wie wir über lange Zeit weit über unsere Verhältnisse gelebt haben. Nur begrenzt stehen uns Trinkwasser, Sauerstoff, Kohle, Erdgas, Wald und Ackerfläche und auch die Fische in den Weltmeeren zur Verfügung. Müll darf daher nicht unermesslich unsere Natur belasten, sondern soll möglichst recycelt oder angemessen deponiert werden. Das Ökosystem unserer Erde ist nicht unendlich belastbar.

Es reicht nicht mehr aus, eingetretene Schäden und unerwünschte Effekte nachträglich aufzuarbeiten und die Schuldigen zu identifizieren und zur Rechenschaft zu ziehen. Dafür haben die Schäden eine Dimension zu großen Ausmaßes angenommen. Es geht um vorausplanende und vorauseilende Vorsorge. Dabei geht es längst nicht mehr um die individuelle Zurechenbarkeit, sondern zunehmend um Strukturfragen. Die Kräfte der Natur hat der Mensch längst nicht mehr im Griff, sie sind ihm vielfach außer Kontrolle geraten:

Der Klimawandel, der im Wesentlichen auf eine Überbelastung der Atmosphäre durch Treibhausgase und Kohlendioxid zurückzuführen ist, zeigt sich bereits in seinen weitreichenden Konsequenzen: Weltweit schmelzen die Gletscher in alarmierendem Tempo. Schwere Stürme verwüsten ganze Landstriche in immer kürzerer Folge. Große Trockenheit wechselt sich mit sintflutartigen Niederschlägen ab. Einige Inseln und manche Küstenregionen versinken langsam im Meer. Flüsse treten über ihre Ufer, denn die Böden können nach Dürreperioden kaum mehr Wasser aufnehmen. Mit zunehmender Erwärmung des Klimas werden sich solche Wetterextreme häufen. Immer mehr Menschen werden durch die Ausbreitung der Wüsten, zunehmende Hochwasser und Stürme oder durch den steigenden Meeresspiegel in Zukunft aus ihrer Heimat vertrieben. Der Klimawandel ist Realität. Wir können nur noch mitbestimmen, wie gravierend er sein wird. Durch Energiesparmaßnahmen und die verstärkte Nutzung alternativer Energieträger, wie Sonnen-, Wind- und Wasserkraft, könnte der Anstieg der Treibhausgase bis 2050 halbiert werden. Das würde reichen, um die Erderwärmung unter der kritischen Grenze von zwei Grad Celsius zu halten.

Die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko im April 2010 ließ nach menschlichem Versagen 105 Tage lang die Erde bluten und fast 780 Mio. Liter Erdöl ins Meer sprudeln. Spätestens danach mussten wir einsehen, dass Ölbohrungen in solchen Tiefen technisch vom Menschen nicht beherrschbar sind. Das Öldesaster, die begrenzte Verfügbarkeit und die steigenden Preise für diesen Rohstoff machen uns bewusst, dass es höchste Zeit ist, unsere totale Abhängigkeit vom Öl zu beenden.

Unser Planet Erde hat seine Grenzen und doch schreitet die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen unaufhörlich voran. Wenn wir so weitermachen, droht unserem Planeten schneller ein Ende als uns lieb ist – schon jetzt gehen die Folgen der Ausbeutung der Natur auf Kosten zukünftiger Generationen. Die Menschheit darf nicht mehr so weiter machen. Wir müssen schleunigst umdenken und Alternativen entwickeln.

Die Fakten sind eindeutig: Wir leben weit über unsere Verhältnisse! Unser ökologischer Fußabdruck, den unser anspruchsvoller Lebensstil auf der Erde hinterlässt, ist zerstörerisch. Kohlendioxid und Müll können nicht in dem Tempo abgebaut werden und Rohstoffe wie Holz nicht in der Geschwindigkeit nachwachsen, wie wir sie konsumieren. Nur 20 Prozent der Menschen in den wohlhabenden Ländern verbrauchen 80 Prozent der weltweiten Ressourcen. Um den drohenden Kollaps zu verhindern, müssen wir weniger und anders konsumieren.

Der Ruf zum Ausstieg aus der Atomenergie wird immer lauter und beschäftigt weltweit nicht nur die Politik. Die Atomtechnik, ursprünglich als Kriegswaffe entwickelt, stellt mit ihrem Vernichtungspotenzial alles in den Schatten. Tod und Verderben begleiten nicht nur die Atombombe seit Hiroshima und Nagasaki, sondern auch die wirtschaftliche Nutzung der Atomkraft. Unfälle haben immer wieder Schwachstellen der Atomtechnik gezeigt. Trotz des angeblich so hohen Sicherheitsstandards ist es in allen Ländern, die auf die Atomenergie zur Stromerzeugung setzen, wiederholt zu Störfällen gekommen, besonders verheerend der atomare Super-Gau 1986 in Tschernobyl und die kürzlich erfolgte nukleare Katastrophe in Japan rund um das havarierte Atomkraftwerk Fukushima. Wir tun gut daran, uns möglichst rasch nach erneuerbaren Energiequellen umzuschauen und sichere Wege der Energiegewinnung zu beschreiten.

Unsere Gesellschaft steht vor immensen ökologischen Herausforderungen, um die Schöpfung zu bewahren. Die Erde ist uns anvertraut sie zu bebauen und zu bewahren, heißt es in der Bibel. Übersetzt bedeutet das: Wir sind verantwortlich für unseren Lebensstil.

Wo die Ehrfurcht vor dem Geschaffenen verloren geht, bleibt die Ehrfurcht vor dem Geschöpf auf der Strecke. Und wo Gott aus dem Leben verschwindet, kann das Leben nur mehr materialistisch gedeutet werden.

Wenn wir wie Franziskus die Liebe und den zärtlichen Umgang mit der Schöpfung als Gottes Spur in unserer Welt wieder neu entdeckten, dann wäre die Natur wieder jene Quelle, aus der die Natürlichkeit des Menschen fließt. Die Welt wäre wieder die Schöpfung Gottes und die Heimat des Menschen.

Meisterhaft hat Joseph Haydn in seinem geistlichen Oratorium den biblischen Schöpfungsbericht in unnachahmliche Musik umgesetzt. Wir freuen uns alle sehr, jetzt gleich diese wunderbaren Töne und Harmonien zu hören und uns in die geheimnisvolle Klangwelt seiner Komposition entführen und von ihr verzaubern zu lassen.

„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war ohne Form und leer, und Finsternis war auf der Fläche der Tiefe. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.“

Joseph Haydn hat den Dank der Menschheit an den Schöpfer aller Dinge ausgedrückt, selbst zutiefst angesprochen vom Wunder der Schöpfung. So schrieb er: „Ich war noch nie so fromm, als während der Zeit, da ich an der ‚Schöpfung‘ arbeitete; täglich fiel ich auf die Knie und bat Gott, dass er mich stärke für mein Werk.“

Im August 1811, also vor genau 200 Jahren, wurde Haydns Schöpfung erstmals auch in der Barfüßerkirche in Erfurt aufgeführt und damit die bis heute gepflegte Tradition der Musikfestspiele überhaupt erst ins Leben gerufen.

Die Barfüßerkirche in Erfurt, für deren Erhaltung und erhofften Wiederaufbau sich wie gesagt ein Initiativkreis mit kreativen und mutigen Ideen einsetzt und heute den Auftakt dieses Musikfestes veranstaltet, darf für uns nicht nur ein Kulturdenkmal einstiger franziskanischer Präsenz in Erfurt bleiben. Als zukunftsträchtiges Monument der Hoffnung erinnert es uns an Franz von Assisi und unseren Grundauftrag, schonend und verantwortungsvoll mit der uns anvertrauten Schöpfung umzugehen, sie für kommende Generationen zu bewahren und in ihr das verlorene Paradies wiederzuentdecken, jene Heimat, aus der Adam und Eva nach dem Sündenfall vertrieben wurden. Noch vor ihrer Aussiedlung sangen sie in dankbarer Freude über alles Geschaffene. Wenn wir nun Haydns Schöpfung hören, dürfen auch wir einstimmen in diesen Lobpreis der Geschöpfe als Dank an den Ursprung und die Quelle allen Lebens: „Die Welt, so groß, so wunderbar, ist deiner Hände Werk. (…) Heil dir, o Gott, o Schöpfer, Heil! Aus deinem Wort entstand die Welt; dich beten Erd’ und Himmel an, wir preisen dich in Ewigkeit!“

P. Maximilian Wagner OFM